Der Nussknacker-Effekt
Seit Jahren, ja seit Jahrzehnten sind Bemühungen aus Gleichstellungskreisen, mehr Frauen ins Erwerbsleben und mehr Diversität in Führungspositionen zu bringen, von bescheidenen Erfolgen gekrönt. Oft stossen diese Bemühungen ins Leere und Frauen an die gläserne Decke. Nun scheint sich plötzlich etwas zu bewegen: Unternehmen und Organisationen lancieren Förderprogramme, überdenken ihre Rekrutierungsstrategien, überarbeiten Inseratekonzepte, verbessern die Vereinbarkeit mit flexiblen Arbeitsmodellen und schaffen Strukturen zur Verankerung von Gleichstellung und Inklusion. So auch die Kantonale Verwaltung mit dem „Aktionsplan Gleichstellung – egual21“ oder die Mitglieder des Netzwerks Diversity-gr. Der Grund dafür: akuter Fach- und Arbeitskräftemangel, gepaart mit veränderten Ansprüchen jüngerer Generationen.
Der Leidensdruck ist gross, die Prognosen sind angesichts des demografischen Wandels düster. Mit diesem nötigen „Gegendruck“ könnten wir es schaffen, die „Nuss“ zu knacken und unsere Arbeitswelt für Männer, Frauen und unterschiedliche Lebensentwürfe attraktiver und fitter zu machen.
Dass Gleichstellungs- und Wirtschaftsvertretende vielleicht nicht dieselben Beweggründe haben, ist nebensächlich. Wichtig ist, gemeinsam zu handeln. Wir müssen sicherstellen, dass Gleichstellungsprozesse und -strukturen in zehn oder 20 Jahren, wenn der Druck nachlässt, ausreichend verankert sind. Ich bin überzeugt und kann aus eigener Erfahrung bezeugen: Haben wir erst erfahren, wie inspirierend gemischte Teams sein können, wollen wir nie mehr anders arbeiten. Von diesem Elan profitieren auch Arbeitgebende: Arbeitnehmende, die ihre Talente in einer egalitären, diskriminierungsfreien Arbeitskultur entfalten können, sind motivierter, gesünder, produktiver.
Doch die Hürden und Hemmfaktoren, welche die Entwicklung seit je erschweren, sind immer noch da. Es gilt, diese zu erkennen und zu überwinden. Zwar ist die Erwerbsquote von Frauen in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Nach wie vor arbeiten Frauen aber viel öfter in Teilzeit als Männer – mit den entsprechenden Auswirkungen auf Karrierechancen, Weiterbildungsmöglichkeiten und Altersvorsorge. Der Grund: Sie betreuen unentgeltlich Kinder, Haushalt, Familienangehörige oder andere pflegebedürftige Personen.
Der Staat und Wirtschaftsunternehmen können und müssen die Vereinbarkeit von Beruf und weiteren Lebensbereichen mit Tagesstrukturen für Kinder oder unterstützenden Angeboten für pflegende Angehörige verbessern. Sind qualitativ gute Angebote vorhanden, sind Frauen auch eher bereit, ihre Kinder in andere Hände zu geben und ihre Erwerbsarbeit zu intensivieren. Auch die Männer müssen mitziehen und ihren Teil der unbezahlten Sorgearbeit übernehmen. Sonst können wir noch lange um den heissen Brei herumreden.
Damit Männer wie Frauen ihre ausserberuflichen Verpflichtungen wahrnehmen können, müssen sie – zumindest in den „rush hours of life“ – teilzeit arbeiten können. Wenn in einem Team viele teilzeit arbeiten, müssen die Strukturen und die Kultur der Zusammenarbeit und der Führung angepasst werden, oder wie es so schön heisst „structure follows strategy“. Job- und Top-Sharing – also das Teilen von Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung – sind vielversprechende Arbeitsmodelle, die geübt werden wollen. Flachere Hierarchien, Delegieren von Entscheidungskompetenzen, partizipative Entwicklungsprozesse: Das ist kein Neuland, aber für viele Menschen gewöhnungsbedürftig.
Das Wichtigste jedoch ist eine offene Haltung: Wir können grundsätzlich davon ausgehen, dass die meisten Menschen ihr Bestes geben wollen, dass sie gesehen, wertgeschätzt und gefördert werden wollen. Wenn die Motivation stirbt, ist das oft darauf zurückzuführen, dass sich im Laufe der Berufsjahre viel Frust angesammelt hat. Die Aufgabe von Führungspersonen ist es, Faktoren, welche die Eigenmotivation der Mitarbeitenden hemmen, zu beseitigen, und Faktoren, welche die Motivation begünstigen, zu fördern. Ich meine hier nicht nur das Drittel der Mitarbeitenden, die es mittels Talentmanagement zu entdecken und zu fördern gilt und die dann hoffentlich „durch die Decke gehen“. Wir müssen diese Haltung allen Menschen entgegenbringen, unabhängig ihres Bildungsstandes, ihres kulturellen und sozioökonomischen Hintergrunds oder ihres Geschlechts.
So, und wie verankern wir jetzt all das in den Strukturen einer Unternehmung oder Organisation? Hierfür gibt es verschiedene Modelle und Strategien. Sicher kein Patentrezept. Impulse lieferte die Veranstaltung „Diversity in Leadership & Tech: Vielfalt verankern“ am 12. Februar 2024 in Chur, weitere Termine werden folgen. Fangen wir doch einfach mal an und knacken die Nuss zusammen!
Barbara Wülser ist Leiterin der Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann Graubünden und Mit-Initiantin von Diversity-gr.
Diversity-grbietet Unternehmen in der Technologiebranche und mit Berufsfeldern, die von der digitalten Transformation betroffen sind, eine Plattform. Das Netzwerk ermöglicht den Erfahrungsaustausch, sensibilisiert für Zusammenhänge und regt Veränderungsprozesse an. Es wird getragen von der Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann, dem Innovationszentrum CSEM, der Academia Raetica, dem Netzwerk «Women in Tech Switzerland»,dem KMU-Zentrum Graubünden der Fachhochschule Graubünden und der Pädagogischen Hochschule Graubünden.